So sollen die Menschen in Frankreich König*innen in Politik und Wirtschaft werden
Geschrieben mit Hanna Bay
Der vorliegende Artikel widmet sich dem Programm der Bewegung “La France insoumise” und deren Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen in Frankreich, Jean-Luc Mélenchon (fortan JLM). Unser Anspruch ist nicht eine umfassende Analyse des ganzen Programms und schon gar nicht eine vollständige Einordnung der Person Mélenchon. Vielmehr ist es das Ziel, die relevanten Passagen zum Thema Demokratie in Staat und Wirtschaft zusammenzufassen und kurz zu analysieren, sowie mögliche Schlüsse für die Linke in der Schweiz zu ziehen.
Dabei ist uns bewusst, dass Melénchon auch innerhalb der Linken nicht unumstritten ist. So stösst seine Positionierung zur EU innerhalb der Sozialdemokratie auf starke Kritik. Mélenchon fordert ein von der EU unabhängigeres Frankreich, während er sich gleichzeitig nicht für die Unabhängigkeit der nach wie vor existierenden Kolonien ausspricht. Auch die Auslandseinsätze kritisiert er kaum. Die “Grande Nation” bleibt im grossen und ganzen unantastbar. Diese nationalstaatliche Perspektive zeigt sich zusätzlich in der Rhetorik. So spricht Mélenchon vorwiegend vom Volk statt von Arbeiter*innen. Selbst die NZZ schrieb: “Seine Revolution ist die von 1789 und nicht die andere vom Oktober 1917.” Im historischen Kontext Frankreichs mit einer revolutionären Tradition ist es taktisch durchaus verständlich, dass sich Mélenchon so verkauft. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die Rhetorik und die Feindbilder JLM’s wirklich zum Verständnis der heutigen politischen Situation beitragen oder ob sie den Blick auf die entscheidende Macht- und Verteilungskonflikte nicht eher vernebeln.
Nichtsdestotrotz ist er derzeit der aussichtsreichste Kandidat der Linken in Frankreich. Er hat in den Umfragen in Frankreich in den letzten Wochen rasant zugelegt und ist nun praktisch gleichauf mit Emmanuel Macron, Marine Le Pen und François Fillon. Damit besitzt er intakte Chancen, als einer von zwei Kandidat*innen in den zweiten Wahlgang einzuziehen. Unterdessen verliert Benoît Hamon vom Parti Socialiste weiter an Boden und ist unter die Marke von 10% gefallen. Dies illustriert eindrücklich, wie sehr die Bevölkerung die Politik der Sozialdemokrat*innen unter Hollande ablehnt: Die Partei kämpft um ihr blankes Überleben.
Das Programm, welches als Grundlage für diesen Artikel dient, ist das Ergebnis eines partizipativen Prozesses: Ausgehend vom Wahlprogramm von 2012, wurden die Unterstützer*innen von “La France insoumise” von Februar bis August 2016 dazu aufgerufen, Vorschläge einzureichen. Über 3000 Ideen wurden dann und zu einem neuen Programm zusammengefügt. Der nationale Konvent von “La france insoumise” verabschiedete dies im Oktober 2016. Seit dem werden gewisse Programmpunkte in sogenannten “livrets thématiques” weiter aufgearbeitet und die Forderungen konkretisiert.
Der letzte Präsident der 5. Republik – Mélenchons Pläne für ein demokratisches Frankreich
Ich würde gerne als letzter Präsident der Fünften Republik nach Annahme der neuen Verfassung durch das Volk nach Hause gehen können.
JLM
Wie kann die Entscheidungsmacht innerhalb der Politik dem Volk zurückgegeben werden? Dieser zentralen Frage widmet sich das erste Kapitel von JLM Wahlprogramm. JLM verspricht nichts weniger als das Ende der 5. Republik Frankreichs und eine Neugründung Frankreichs durch die Gründung der 6. Republik.
Eine neue Verfassung – die 6. Republik
JLMs – zugegeben relativ kurze – Analyse der aktuellen Staatsform Frankreichs ist simpel: Frankreich ist keine echte Demokratie, solange der Präsident der Republik derart viel Macht hat. In der Tat ist die Macht in Frankreich ungleich stärker als in vielen anderen Demokratien in den Händen des Präsidenten konzentriert. So wurden seine Kompetenzen zwar seit Beginn der 5. Republik durch Reformen teilweise eingeschränkt, sind aber dennoch – verglichen mit anderen europäischen Staaten – sehr umfangreich: So ist er nicht nur an der Spitze einer stark zentralisierten Verwaltung, sondern auch verfassungsrechtlich befugt, wichtige Entscheidungen ohne den Einbezug des Parlaments zu treffen. Dazu gehört die Ernennung von Ministern, die Ausrufung des Notstandes, die Ernennung der Mitglieder im Verfassungsrat sowie die Auflösung der Nationalversammlung. Insbesondere im letzten Punkt sieht JLM den Beweis für die Marginalisierung des Parlaments, dessen Mitglieder ihre Aufgabe weniger in der Vertretung der Bevölkerung sehen, sondern dem Dienen des Staatsoberhaupts.
Um von diesem System wegzukommen, will JLM einen Verfassungsrat bilden, der eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Um die Unabhängigkeit des Rates zu garantieren, dürfen dessen Mitglieder, die teilweise gewählt und teilweise per Los bestimmt werden sollen, weder bisherige Parlamentarier*innen sein, noch nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung für das Parlament kandidieren. Dieses Misstrauen gegenüber der politischen Elite zieht sich durch das ganze Programm, was angesichts der zahlreichen Korruptionsskandale (Le Pen, Fillon) sicherlich berechtigt ist. Darüber hinaus schlägt JLM strenge Vorgaben zur Korruptionsbekämpfung vor. So soll ein*e Politiker*in, welche*r wegen Korruption verurteilt wurde, für den Rest des Lebens von der institutionellen Politik ausgeschlossen werden, die Möglichkeit der Justiz bei der strafrechtlichen Verfolgung der Korruption ausgebaut werden, Lobbyisten den Zutritt zum Parlamentsgebäude verwehrt werden, sowie Geschenke an die Parlamentarier*innen verboten werden.
Politische Rechte und Pflichten – Mehr Partizipation
Mit der neuen Verfassung soll auch der rein repräsentativen Demokratie, in der nur einmal alle fünf Jahre gewählt wird, ein Ende gesetzt werden. Das Programm schlägt eine grundsätzliche Neugestaltung der politischen Rechte vor, um den “Graben zwischen Politik und Bevölkerung” zu schliessen. So soll das Referendums- und Initiativrecht (zumindest auf Gesetzesebene) eingeführt werden sowie eine obligatorische Volksabstimmung im Fall einer Verfassungsänderung oder einen neuen EU-Vertrag. Diese Ideen erinnern stark an das politische System der Schweiz, doch JLM Vorschläge für eine partizipative Politik gehen weiter: Stimmrechtsalter 16, Ausländer*innenstimmrecht auf Gemeindeebene (hier dient die sonst bei JLM wenig beliebte EU als Vorbild) und eine allgemeine Stimmpflicht. Damit einher geht für JLM die Einführung des Proporzwahlsystems anstatt der bisherigen Mehrheitswahl, die Abschaffungs des Senats und die Gründung einer Art Volksversammlung (“une Assemblée de l’intervention populaire”), deren Aufgabe und Funktionsweise jedoch nicht weiter ausgeführt sind. Der drastischste Vorschlag von JLM ist jedoch die Möglichkeit, eine*n amtierende*n Mandatsträger*in per Referendum abwählen zu können.
Die Demokratisierung der Politik scheint sinnvoll, birgt aber auch gewisse Gefahren. So schweigt das Programm zu Kontrollmechanismen, deren Notwendigkeit in der Schweiz durch menschenrechtswidrige Initiativen klar aufgezeigt wurde. Zwar hält JLM in seinem Programm fest, dass Grundrechte und Menschenwürde gestärkt werden müssen, eine Kontextualisierung von diesem möglichen Widerspruch ist aber wohl der Kürze des Programms zum Opfer gefallen. Oder dies ist zumindest zu hoffen. Auch bezüglich Transparenz beschränkt sich JLM vorwiegend auf die Korruptionsbekämpfung. Bezüglich der Finanzierung von künftigen Abstimmungskampagnen schweigt das Programm. Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass dieser Punkt von elementarer Wichtigkeit wäre.
Demokratisierung der Medien
Zu JLMs umfassenden Demokratieverständnis gehören auch die Medien: Keine Demokratie ohne freie, unabhängige und pluralistische Medienlandschaft. So will er via Gesetz die Monopolisierung der Medien stoppen, den Sektor vor finanziellen Interessen bewahren sowie die Umwandlung der Medienhäuser in Genossenschaften fördern. Um die “Sondocratie”, der Meinungsbildung durch Umfragen, zu beenden, will er solche in den Tagen und Wochen vor den Wahlen gleich ganz verbieten. Auch hier will er das bisherige Kontrollorgan, den Hohen Rat für audiovisuelle Medien, durch einen “Nationalen Rat der Medien” ersetzen, um die Qualität und die Pluralität der Medien sicher zu stellen. Wie sich diese beide Gremien voneinander unterscheiden, wird aus dem Programm jedoch nicht klar.
Für das öffentlich-rechtliche Fernsehen und Radio schlägt er vor, deren Präsident*innen durch das Parlament wählen zu lassen. Dabei vergisst JLM jedoch, dass starke und möglichst unabhängige Staatssender eben gerade nicht im Interesse der Herrschenden sind. Eine Wahl durch das Parlament würde die Medien abhängiger machen, da sie eben gerade abgestraft bzw. abgewählt werden können. Der vierten Gewalt muss die richtigen Rahmenbedingungen gegeben werden, wie dies JLM auch vorschlägt, ob eine Kontrolle durch die Legislative zu einem unabhängigen Journalismus führt, scheint jedoch fraglich.
Wirtschaftsdemokratie
La grande Révolution a rendu les Français rois dans la cité et les a laissés serfs dans l’entreprise. (Die grosse Revolution hat die Französ*innen zu König*innen in der Stadt gemacht und sie in den Unternehmen Knecht*innen bleiben lassen.)
Jean Jaurès, französischer Sozialist
Daran hat sich in den über hundert Jahren nach dem Tod Jaurès kaum etwas geändert. Gerade im Bereich der Wirtschaftsdemokratie sieht “La France insoumise” deshalb dringenden Handlungsbedarf. In Bezug auf Service Public, den Einfluss der Arbeitnehmer*innen, Handel und Globalisierung und den ökologischen Umbau will die Bewegung hinter JLM radikal neue Wege gehen.
Service Public – mehr öffentliches Eigentum
Gemäss Programm sollen die Eigentumsinteressen einzelner im Zweifelsfall dem Allgemeininteresse untergeordnet werden.Im Programm fällt sofort auf, dass “La France insoumise” den Begriff der gemeinschaftlichen Güter breit fasst. Dazu gehören insbesondere auch natürliche Ressourcen wie Wasser, Luft oder die Nahrungsmittelversorgung. Aus der Sicht aufgeklärter Menschen mag das zwar selbstverständlich tönen, die Konsequenzen dieses Prinzips sind dennoch radikal. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern hat Frankreich nie den Fehler begangen, die Wasserinfrastruktur zu privatisieren. Dass aber auch die Luft und die Ernährung gemeinschaftlich verwaltet werden sollen, erfordert radikale Schritte. So müsste beispielsweise die Landwirtschaft demokratisiert werden. Wird die Luft konsequent als Gemeinschaftseigentum anerkannt, wäre beispielsweise jede Luftverschmutzung ein Angriff auf das gemeinsame Eigentum aller Menschen in Frankreich und müsste damit geahndet werden.
Im Bereich des klassischen Service Public ist Mélenchon weniger visionär und kritisiert vorwiegend vergangene Privatisierungen. Diejenigen von “Filetstücken” wie des Eisenbahnkonzerns Alstom oder der Telefongesellschaft Alcatel sollen von einer eigens geschaffenen Untersuchungskommission untersucht werden. Ausserdem möchte Mélenchon in einer grossangelegten Untersuchung sämtliche Privatisierungsprogramme der letzten drei Jahrzehnte auf deren Auswirkungen untersuchen. Im Endeffekt sollen dann Flughäfen und Autobahnen rückverstaatlicht werden und dem Staat ganz grundsätzlich das Recht eingeräumt werden, Unternehmen zu verstaatlichen.
Im Vergleich zu den wirtschaftsdemokratischen Positionen der SP Schweiz wagt sich “La France insoumise” bei den gemeinschaftlichen Gütern einen Schritt weiter. Auch die SP fordert einen Ausbau des Service Publics auf weitere Bereiche. Trotzdem lehnte sie es aber am Parteitag in Thun ab, in ihrem Wirtschaftsdemokratie-Papier (fortan WDP) die Frage nach dem Sinn von uneingeschränktem Privateigentum an den Produktionsmitteln zu stellen. Genau darum geht es aber bei Massnahmen der Wirtschaftsdemokratie: Über einen grösseren Anteil der natürlichen und technischen Produktionsmittel soll kollektiv und demokratisch verfügt werden. Die SP Schweiz hat es jedoch verpasst, diese theoretische Grundlage klar im WDP festzuhalten. Damit fehlt eine wichtige Grundlage, um im Bezug auf natürliche Ressourcen wie Luft und Wasser eine klare und radikale Position zu beziehen: Diese Güter sind Gemeinschaftseigentum, wer sie beschädigt, hat dafür gerade zu stehen.
König*innen im Unternehmen – gerade im digitalen Zeitalter
Daneben finden sich auch im Programm “L’avenir en commun” viele der klassischen Forderungen nach Mitbestimmung. Diese unterscheiden sich lediglich in Details von den Themen, die von der SP Schweiz im WDP aufgegriffen wurden. So sollen die Mitarbeiter*innen ein Vetorecht erhalten bei Kündigungen aus purer Profitlogik und in strategischen Fragen. Ausserdem soll Betriebsräten die Möglichkeit eingeräumt werden, der Unternehmensführung das Misstrauen auszusprechen. Was ein solchens MIsstrauensvotum dann jedoch für konkrete Konsequenzen hat, wird im Programm nicht weiter ausgeführt.
Eine wichtige Rolle im Bereich der Mitbestimmung spielt die “Économie sociale et solidaire” (sozial-solidarische Wirtschaft), die in Frankreich bereits wesentlich stärker entwickelt ist als in der Schweiz. Der nationale Branchenverband in Frankreich vertritt bereits 10% des Bruttoinlandsprodukts und über 12% der Beschäftigten. Diese Art von Unternehmen soll mit verschiedenen Massnahmen noch stärker als bisher gefördert werden. Bei bisherigen Unternehmen soll im Verkaufsfall oder bei einer angekündigten Schliessung den Mitarbeitenden ein Vorrecht eingeräumt werden, das entsprechende Unternehmen zu übernehmen und als sozial-solidarisches Unternehmen weiterzuführen. Dazu soll auch die Finanzierung verbessert werden. Durch die Verstaatlichung der “Banques généralistes” soll ein öffentlicher Bankensektor errichtet werden. Damit sollen Kredite unter sozialen und ökologischen Kriterien vergeben werden, was insbesondere die Unternehmen der sozial-solidarischen Wirtschaft unterstützen würde. Allgemein sollen KMU Zugang zu Krediten mit Nullzinsen aus dem öffentlichen Bankensektor erhalten.
Um die Vergabe von Entwicklungskrediten für Unternehmen weiter zu vereinfachen, soll die “banque publiqe d’investissement” eine Banklizenz erhalten. Damit könnte sie sich direkt bei der Zentralbank refinanzieren. So wird die Kreditvergabe erleichtert, womit weiteren KMU und sozial-solidarischen Unternehmen Zugang zu Krediten ermöglicht werden kann. Ausserdem soll ein Solidaritätsfonds geschaffen werden, um die Beiträge zur sozialen Sicherheit gerechter unter den Unternehmen zu verteilen. Durch die Finanzierung über progressive Unternehmenssteuern soll dieser Fonds ebenfalls kleinere Unternehmen entlasten.
Löblicherweise nimmt das Programm auch Stellung zu Chancen und Risiken des technischen Fortschritts und kommt zu einem klaren Schluss: Auf die Digitalisierung ist die Demokratisierung der Wirtschaft die beste Antwort. So sollen insbesondere digitale Plattformen in Genossenschaften überführt werden. Diese können nach französischem Recht zwar auch von aussen finanziert werden. Jedoch muss den Mitarbeiter*innen jeweils ein Stimmrechtsanteil von mindestens 51% garantiert bleiben.
Neben der genossenschaftlichen Organisationsform von Vermittlungsplattformen schlägt “La France insoumise” eine Regelung vor, die Anbieter*innen von digitalen Informations- und Vermittlungslattformen wie Uber unterzeichnen müssen. Nur Plattformen, die sich an soziale und ökologische Prinzipien halten und angemessen Steuern bezahlen, dürfen in Frankreich zugelassen werden. Ausserdem soll der Staat gezielt mit dem Aufbau eigener Vermittlungsplattformen in verschiedenen Bereichen beginnen. Digitale Plattformen könnten so beispielsweise materielle Dinge wie den öffentlichen Verkehr oder die Güterversorgung erleichtern, gleichzeitig aber auch die Transparenz und Geschwindigkeit der öffentlichen Ämter erhöhen und beispielsweise den Zugang zu Rechtsberatung für die Bevölkerung vereinfachen.
Bereits im Vorfeld der Debatte zum WDP der SP Schweiz wurde kritisiert, dass darin kaum Antworten auf die technologischen Umbrüche der heutigen Zeit zu finden seien. Das Wahlprogramm von JLM zeigt jedoch glasklar, dass grundlegende politische Rezepte nicht vom Stand der Produktionstechnologie abhängig sein müssen. Trotzdem ist es auch für die Linke in der Schweiz besonders wichtig, Digitalisierungsdebatten in Zukunft so lenken zu können, dass daraus Demokratisierungsdebatten entstehen. Hier liefert “La France insoumise” einige interessante Ansätze.
Globalisierungskritik – für einen lokalen ökologischen Umbau
Grundsätzlich folgt das Programm einem globalisierungskritischen Kurs. So wird der freie Kapital- und Warenverkehr als Angriff auf die Arbeitenden, die Umwelt, die industrielle Substanz und die Zukunft ganzer Regionen angesehen. Zugleich sieht die Linke Frankreichs die Handelspolitik aber als Hebel, um ihr politisches Programm international durchzusetzen.
Ganz grundsätzlich fordert JLM im Programm, dass wieder lokaler produziert werden müsse. So soll die Handelspolitik in Zukunft wieder der Stärkung sozialer und ökologischer Ziele dienen und sich an der Havanna-Charta orientieren. Diese forderte, dass Länder sowohl für Exportüberschüsse als auch -defizite bestraft werden. So sollte garantiert werden, dass Handel jeweils im Interesse aller Nationen ist.
Um für die Umsetzung des Programms strategisch wichtige Industrien zu schützen, sollen Anti-Dumping-Massnahmen eingeführt werden. So soll beispielsweise die Stahl- und Photovoltaik-Industrie vor günstigen Exporten aus dem Ausland abgeschirmt werden, damit der ökologische Umbau durch Produktion im Inland erreicht werden kann. Insbesondere die erneuerbaren Energieträger und der Ausbau des Eisenbahnnetzes sollen so durch die nationale Industrie ermöglicht werden. Weitere Importrestriktionen werden gefordert für Güter, die unter unverantwortbaren sozialen oder ökologischen Bedingungen hergestellt wurden. Importzölle sollen jedoch immer durch Verhandlungen mit den entsprechenden Handelspartnern eingeführt werden.
Analyse und Fazit
Die von JLM vorgeschlagenen grundlegenden Reformen bezüglich des politischen Systems Frankreichs scheinen vielversprechend. Seine Wut gegenüber dem politischen Establishment von links bis rechts trifft den Nerv vieler Wähler*innen und auch wenn sich viele der einzelnen Forderung mit den Forderungen des sozialistischen Kandidaten Benoît Hamon überschneiden, ist JLM der bessere Absender. So wurde er nach der zweiten Debatte am 4. April in einer Blitzumfrage zum glaubwürdigsten aller 11 Kandidat*innen gewählt. Dies, nachdem er auch bei der ersten Debatte als einer der Sieger vom Feld ging. Das Programm von JLM scheint anzukommen, da es simpel ist: Gegen die Finanzoligarchie, für die Bevölkerung. Dabei fällt aber auf: “La France insoumise” ist äusserst staatsgläubig und verfolgt oft einen “top-down”-approach. Der französische Zentralstaat soll für die meisten Forderungen direkt verantwortlich sein. Dies zeigt sich auch bei Mélenchons Kritik an der “Präsidialmonarchie”: Er stört sich nicht grundsätzlich an der starken Zentralisierung, sondern möchte lediglich die grosse Macht vom Präsidenten auf das Parlament verschieben. Obwohl JLM auch zahlreiche direktdemokratische Elemente einführen möchte, bleiben diese doch vorwiegend auf den Nationalstaat als politisches Gefäss beschränkt. Damit bleibt die Macht zur Selbstbestimmung und Einflussnahme der*s Einzelnen jedoch klein. Zusätzlich darf nicht vergessen werden: Partizipative Politik ist nicht zwingend linke Politik: Als Sozialist*innen kämpfen wir für eine Demokratie, in der wir von Beginn und auf allen Ebenen selbst gestalten können. Dafür genügt es jedoch nicht, lediglich die Mitbestimmungsrechte der Bevölkerung zu stärken. Dies wird auch klar, wenn man an das andere Ende des politischen Spektrums blickt, wo Marine Le Pen bezüglich Ausbau der Volksrechte ein ähnliches Programm hat. Die direktdemokratischen Instrumente müssen links geprägt und genutzt werden und spätestens hier kann die Verfassung der 6. Republik nicht mehr vorsorgen. Dafür braucht es dann Menschen, die bereit sind, innerhalb des Systems zu kämpfen, Menschen und Kämpfe zusammenzubringen, um durch ein schlaues Themensetting der demokratischen Mitbestimmung links zu dominieren. Und vermutlich wäre diese Revolution des Politikverständnisses der Menschen fast noch grösser als die Revolution der Politik selbst.
Die Standpunkte in Bezug auf die klassische Wirtschaftsdemokratie decken sich im Grundsatz mit denjenigen des WDP. Weit wichtiger ist in “L’avenir en commun” jedoch der Aufruf nach Verstaatlichung, Rückverstaatlichung und Staatseingriffen. Damit würde in Frankreich selbst bei einem Ausbau der direktdemokratischen Instrumente kaum nennenswerte Macht an die Bevölkerung abgegeben. Vielmehr läge die Verantwortung für das Management der zusätzlichen Staatsbetriebe wieder bei der Bürokratie in Paris. Schon die letzte linke Regierung in Frankreich unter François Mitterand vernachlässigte Forderungen nach mehr betrieblicher Selbstverwaltung, hatte dafür aber immerhin machtpolitische Gründe. So waren die kommunistischen Gewerkschaften denjenigen der Sozialisten überlegen und er fürchtete so um seine Machtbasis. Daneben erscheint es wesentlich unklarer, weshalb JLM dieser Thematik kaum grössere Bedeutung einräumt.
In Bezug auf die Aussenpolitik spielen die Lehren aus der Mitterand-Zeit hingegen eine dominante Rolle. Dessen linke Politik war 1983 in den Augen vieler an aussenwirtschaftlichen Restriktionen gescheitert, also an explodierenden Handelsdefiziten und Spekulationen gegen den Franc. Obwohl letzteres im EURO wegfällt, dürfte der Spielraum für linke Politik unter dem Maastrichter Vertrag und EURO kaum grösser sein. Die stark protektionistischen Massnahmen zur Einschränkung des Importe und des Kapitalverkehrs sind deshalb die logische Schlussfolgerung, um ein Land wie Frankreich gegen eine sich verschlechternde Handelsbilanz abzusichern. Ohne diese Absicherung und in einer schwächelnden Weltwirtschaft würde mit hoher Wahrscheinlichkeit genau eine solche Verschlechterung folgen, sollte von JLM ein Konjunkturpaket geschnürt und die Kaufkraft der Menschen erhöht werden.
“L’avenir en commun” bietet daneben in zwei Bereichen interessantes Anschauungsmaterial. Beim Umgang mit der Digitalisierung werden ganz klare Bedingungen für Vermittlungsplattformen vorgeschlagen, während gleichzeitig das Entstehen staatlicher und genossenschaftlicher Plattformen gefördert werden soll. Hier wäre es an der SP, für die Schweiz einen solchen Bedingungskatalog aufzustellen und auf allen Staatsebenen Einfluss zu nehmen, um sozial und ökologisch verträgliche Plattformen zu schaffen. Dazu wäre einzig ein klareres Bekenntnis zu den Werten der Wirtschaftsdemokratie und damit die Kritik an der herrschenden Eigentumsordnung notwendig.
Des weiteren hat Mélenchons Umgang mit gemeinschaftlichen Gütern etwas visionäres. Während im WDP einzig Boden als Gemeingut gesichert werden soll, wäre das Gleiche vorgehen auch mit der Luft und der damit verbundenen Verschmutzung möglich. So könnten ökologische Ziele wie eine Senkung des CO2-Ausstosses leichter erreicht werden, weil die Verschmutzung der Luft im Prinzip ein Angriff auf gemeinschaftliches Eigentum ist.